Außenseiter-Tanzmusik. Das verbirgt sich hinter dem Party- und Plattenlabel Reach Another System. Wer sind die Gründer und was sind ihre Pläne? Eine Spurensuche im Stühlinger.
Skrz. Skrz. Skrz. Kratzende, schleifende Geräusche erfüllen die kleine Wohnung im Stühlinger. Die Kickdrum klingt unsauber, kaputt irgendwie, als ob die Lautsprecher defekt wären. Die Bierflaschen auf dem Tisch vibrieren. Der Bass ist zu stark. Jonas Klingberg steht auf. “Vielleicht muss ich den Bass doch ein wenig rausnehmen”, sagt er und dreht an den Reglern seines Mischpults. Der 21-Jährige Emmendinger lebt seit Mai in Freiburg. Tagsüber arbeitet der gelernte Industriekaufmann in einem mittelständischen Unternehmen in Freiburg. Abends und nachts legt er auf. House, Techno, Ambient, EBM. Musik für die dunkelsten Stunden der Nacht. Diese Leidenschaft teilt er mit Niklas Wille, 21, ebenfalls gebürtiger Emmendinger und Student der Medienwirtschaft an der Hochschule der Medien in Stuttgart.
Seit Anfang dieses Jahres verbindet die beiden Discjockeys, die sich bereits aus Realschulzeiten kennen, eine weitere Leidenschaft: Ihr Plattenlabel Reach Another System. Die erste Vinylschallplatte ist Anfang Juli erschienen. Produziert hat sie der Freiburger Frederick Block, einst Teil des Veranstalter- und DJ-Kollektivs Subjkts.Skrz. Skrz. Skrz. Endlich steht die die Skype-Verbindung nach Stuttgart. “Manchmal ist das hier alles ein wenig ruckelig und lofi. Wie der Sound, den wir so mögen”, sagt Jonas und lacht. Seit er und Niklas zusammen auflegen, als Teil des Freiburg-Emmendinger Strangers-Kollektivs oder zu zweit als Jekyl & Daun, hatten sie den Traum vom eigenen Plattenlabel. “Uns hat schon immer das Ganze interessiert. Auflegen, Platten sammeln, Partys veranstalten. Ein Label war für uns der nächste logische Schritt” sagt Niklas. “Alternativlos”, ergänzt Jonas.
Monatelang haben die zwei, die sich trotz ihres jungen Alters selbst nicht mehr als Newcomer sehen, ihr Projekt vorbereitet. Sie haben mit befreundeten Discjockeys gesprochen, die ebenfalls ein eigenes Label betreiben. Sie haben befreundete Produzenten nach Skizzen und Stücke angefragt. “Gar nicht so einfach, wenn man selber noch nichts Konkretes vorweisen kann”, sagt Niklas. Wie lange es letztendlich vom ersten Gedanken bis zur eigentlichen Entscheidung, den Prozess in Gang zu setzen, gedauert hat, können sie nicht mehr sagen.
“Irgendwann hat Frederick Block das Stück ’Can U’ auf seinem Soundcloud-Profil veröffentlicht. Niklas und ich waren sofort davon überzeugt. Wir wollten beide, dass das auf Vinyl erscheint”, sagt Jonas. Das erste Release auf Reach Another System stand somit fest.
Der Name ihres Labels ist derselbe wie der ihrer Partyreihe. Diese sollte ursprünglich regelmäßig in der Passage46 stattfinden. Niklas und Jonas verbrachten nach Feierabend oft Stunden zusammen. Bei Bier und Pizza schrieben sie ihre jeweiligen Wunschnamen für einen Partytitel auf und diskutierten über die Vor- und Nachteile einzelner Namen. “Viele haben wir verworfen”, erinnert sich Jonas.Eine Steilvorlage lieferte schlussendlich der Frankfurter House- und Techno-Produzent Florian Kupfer mit seiner Platte “This Society”. Deren B-Seite enthält das Stück “Reach Another System”. Außenseiter-Tanzmusik. “Florian war unser erster Gast-DJ in der Passage46. Mit diesem Titel stand das Motto für die Clubnacht und damit auch die Partyreihe fest”, so Niklas. Ihren Gästen wollen sie neue musikalische Welten erschließen. Im besten Fall erreichen diese einen anderen Bewusstseinszustand nur aus der Musik heraus.
Das Debüt in der Passage46 floppte dann allerdings. Rund 30 zahlende Gäste kamen an jenem Abend im Mai 2015. “Wir haben Lehrgeld bezahlt”, kommentiert Jonas diesen Abend. Geblieben ist jedoch der Kontakt zu Florian Kupfer, zu dem sie inzwischen ein freundschaftliches Verhältnis pflegen. Kupfer ist es auch, der ein Stück auf Frederick Blocks EP durch den Remix-Fleischwolf gedreht hat.
Skrz. Skrz. Skrz. Die Skype-Verbindung wird schwach. Die Stimme von Niklas ist kaum zu verstehen. Störgeräusche überlagern sie. Für solche noisig-dronigen Sounds können sich die beiden stundenlang begeistern. Stehen sie selbst an den Plattenspielern eines Clubs, lassen sie zerklüftete Basslines und schroffe Drums auf brüchige Melodien treffen, die sich langsam durch den düsteren Groove schleppen. Der Soundtrack einer bedrohlichen, dystopischen Gegenwart. Ein deutlicher Kontrapunkt zu einem ins immer poppigere ausufernden House-Sound, wie ihn Produzenten vom Format eines Felix Jaehn oder Robin Schulz verkörpern.
“Wir hören beide gerne EBM, New Wave und Industrial”, sagt Jonas. Also Musik von Bands wie Nitzer Ebb, Front242, Laibach und DAF, um nur die Bekanntesten zu nennen. An die schroffe Ästhetik dieser Bands erinnern auch Logo und Schrift, die die Labelmacher verwenden. Eine gebrochene Schrift. “Sie hat etwas Kaltes, Industrielles, passend zum Sound”, so Jonas.
Die Schrift und das unausgeschriebene RAS-Logo provozieren. Kurz nach Veröffentlichung müssen die beiden dafür Kritik einstecken. Die Schrift könne eine falsche Zielgruppe anlocken, sie sei heute in vornehmlich rechtsradikalen Kreisen verbreitet. Das aber ist Jonas und Niklas zu platt. “Wer sich mit der Geschichte der Frakturschrift beschäftigt, weiß, dass diese im Dritten Reich als ’Judenlettern’ verpönt war”, sagt Niklas, der inzwischen wieder am Gespräch teilnimmt. Außerdem habe eine Schriftart zunächst einmal keine politische Bedeutung.
Dass sie diese Assoziation hervorruft, ist nicht von der Hand zu weisen. Doch vielleicht, so der Wahl-Stuttgarter, bedürfe es im Überangebotsmarkt der elektronischen Clubmusik auch ein gewisses Maß an visueller Provokation, um auf sich aufmerksam zu machen. “Diskussionen sind gewollt”, sagt er und verweist auf den Bildcharakter. Härte, Kälte, Rohheit verbinde er damit. Etwas, was auch den Genres EBM und Industrial innewohnt.
Niklas verabschiedet sich. Er muss noch ein wenig lernen, Klausuren stehen an. Im Herbst beginnt das dritte Semester. Viel freie Zeit bleibt da nicht mehr neben Auflegen und Labelarbeit. Skrz. Skrz. Skrz. Weg ist er. Ursprünglich hatten er und Jonas überlegt, die Veröffentlichungen auf ihrem Label im Selbstverlag zu vertreiben. “Ein guter Vertriebspartner erschließt jedoch Verkaufskanäle, an die man als Newcomer nicht ran kommt”, sagt Jonas.
Jonas und Niklas sind mit Reach Another System bei DBH gelandet. Der Frankfurter Vertrieb, von Robert Drewek, Alex Bau und Jörg Henze gegründet, hat neben Frankfurter Technolabels wie Raum…musik auch jede Menge LoFi-Techno aus Russland und Wiederveröffentlichungen von altem House aus Chicago im Portfolio. Eigentlich eine Win-Win-Beziehung für das Freiburger Kleinstlabel.
Trotzdem waren Jonas und Niklas nervös, bis die Verträge unterzeichnet, die Platte aus dem Presswerk endlich in den digitalen und stationären Handel kam. Mastering, Presswerk, Vertrieb und Promo-Arbeit. Labelarbeit setzt sich aus vielen kleinen Schritten zusammen. “Das schüttelt man nicht aus dem Ärmel”, sagt Jonas.
Er steht auf und schließt seinen Laptop an seine Anlage an. Er öffnet ein paar Ordner und spielt Stücke kommender Veröffentlichungen auf Reach Another System an. Diese haben ein Frankfurter namens Raw Ambassador und das Hamburger Duo Fallbeil produziert. Auf den Basslines liegt eine ordentliche Schippe Schmutz. Wackelig-verrauscht klingen die Drums. Ein Sound mit hoher Durchschlagskraft und Schockwirkung. Ein Laie würde denken, die Boxen seien kaputt. Doch das Kaputte gehört schon immer zur Nacht und in den Club – genauso wie die Musik, die auf dem Label Reach Another System erscheint.
[Dieser Beitrag erschien am Mittwoch, 27. Juli 2016, im Freiburger Onlinemagazin fudder.de]