Zu Beginn ein Blick in die jüngste Vergangenheit:
01. November 2002. Zürich. tonhalleLATE. Unter der Leitung seines Dirigenten David Zinman spielt das angesehene Züricher Tonhalle-Orchester ausgewählte Werke klassischer Komponisten. Jeweils davor und danach ist – in der Züricher Tonhalle – Party angesagt. Namhafte DJs beschallen das ehrwürdige Foyer. Beats und Bässe dringen auf das – zumeist – junge Publikum ein, das bis soeben eine andächtige Stille wahrte. Der Ort des bedächtigen Sehens und Gesehen werdens wandelt sich in eine offene Bühne der Selbstdarstellung. In eine Stätte selbstverliebten Tanzens.
02. Juli 2005. Nîmes. Pont du Gard. An geschichtsträchtiger Stätte scheinen zwei Welten aufeinander zu prallen. Historische Ruinen und modernste Technik. Klassische Musik und Techno. Der Dirigent Alain Altinoglu, der Komponist Thomas Roussel, das Montpellier Philharmonic Orchestra und Jeff Mills, Produzenten- und DJ-Legende aus Detroit. Ein einzigartiges Open-Air-Konzert, für das Jeff Mills mit Unterstützung von Thomas Roussel eine Auswahl seiner bekanntesten Produktionen, darunter Klassiker wie “The Bells” und “Gamma Player” in die Formsprache der klassischen Musik übertragen hat. Ursprünglich auf den Dancefloor abgerichtete Tracks in Partitur gefasst. Während des Konzerts spielt Jeff Mills die Beats und Bässe live ein. Ohne auf vorprogrammiertes Material zurückzugreifen. Das erste Mal seit den Zeiten von Underground Resistance.
14. März 2007. Düsseldorf. Tonhalle. Phoneheads, das deutsche Drum’n’Bass-Duo trifft auf die Düsseldorfer Philharmoniker. Rauhe englische Klubmusik aus dem Untergrund versus filigrane Harmonien. Die Tracks der Wegbereiter der deutschen Drum’n’Bass-Szene werden für ein einziges Konzert einer vollumfänglichen Neubearbeitung unterzogen, in Orchesterfassung umgeschrieben.
Klassische Musik begegnet Klubkultur. Klassik meets Techno. Klassik meets Drum’n’Bass. Drei Projekte, die den Brückenschlag wag(t)en zwischen zwei auf den ersten flüchtigen Blick gänzlich unvereinbarer Genres.
18. Oktober 2008. Paris. Cité de la Musique. Projet VERSUS. Carl Craig vs. Les Siècles.
Carl Craig, frenetisch gefeierter, im vergangenen Jahr für einen Grammy nominierter DJ und Produzent der “dritten Techno-Göttergeneration” aus Detroit wird am Abend des 18. Oktobers 2008 gemeinsam mit dem im Jahre 2003 von Francois-Xavier Roth gegründeten Kammerorchester Les Siècles das Projekt VERSUS in einer einzigen Aufführung zur Vollendung bringen und der Weltöffentlichkeit vorstellen.
Wie schon zuvor, wie bei jedem genreübergreifenden Projekt, stellt sich auch hier die Frage, wie das Ausgangsmaterial, in diesem Fall eine handverlesene Auswahl von sechs Tracks aus dem Repertoire Carl Craigs, umgeformt wird, gewissermassen kompatibel gemacht wird für klassisch ausgebildete Musiker. Wie vollzieht sich die Umwandlung vom Digitalen hin zum Analogen?
Wie der eingangs bereits erwähnte Jeff Mills beschreitet auch Carl Craig Zeit seines künstlerischen Schaffens beständig Neuland. Sucht und stellt sich Herausforderungen. Wie beispielsweise in seinem Projekt Innercity Orchestra, mit dem er Schnittstellen, Trennendes und Verbindendes von Jazz und Techno auszuloten (ver-)suchte. Neben Carl Craig und dem Kammerorchester Les Siècles beteiligen sich an dem Projekt zwei weitere (Ausnahme-)Künstler:
Es ist zum einen der junge Pianist Francesco Tristano (Schlimé). Mittlerweile in Barcelona lebend, schloss der gebürtige Luxemburger sein Studium an der renommierten Juilliard School in New York 2003 mit dem (Konzert-)Diplom ab. Schon sehr früh wusste er sich für die elektronische Musik, insbesondere Techno aus Detroit, zu begeistern und versuchte, eine Sprache “zwischen den Welten”, zwischen der klassischen Musik und Techno zu finden. Seine Begeisterung für Musik führte ihn dazu, sich insbesondere auch mit den wegweisenden Produktionen der Techno-Musik auseinander zu setzen mit dem (End-)Ergebnis, instrumentale Versionen namhafter Tracks, beispielhaft sei Derrick Mays “Strings Of Life” erwähnt, einzuspielen. Höhepunkt seiner bisherigen Schaffensperiode: die Veröffentlichung des Albums “Not For Piano” auf InFiné, dem Label des französischen Techno-Newcomers Agoria.
Neben Francesco Tristano zeichnet Moritz von Oswald für das Projekt VERSUS verantwortlich. Moritz von Oswald – dieser (Ausnahme-)Produzent bedarf eigentlich keiner weiteren Erläuterung, und daher seien nur kurz erwähnt: Basic Channel, Chain Reaction, Rhythm & Sound – ohne sein wegbereitendes Schaffen als Produzent und Labelbetreiber (zusammen mit Markus Ernestus), hätte Techno aus Deutschland einen nur untergeordneten Stellenwert, sowohl im In- wie auch im Ausland. Moritz von Oswald und Berlin sind gleichwertige Parameter zu Underground Resistance und Detroit. Moritz von Oswald kümmert sich bei VERSUS insbesondere um die Arrangements der Beats und wird an diesem Abend ein (zusammen mit Carl Craig) neu geschriebenes Stück der Weltöffentlichkeit präsentieren, so dass ich schon jetzt mit Sicherheit behaupten darf:
Carl Craig vs. Les Siècles wird Musikgeschichte schreiben.