Foto: Suhrkamp |
Bässe stampfen, Beats marschieren stundenlang im Gleichschritt. Schier endlose Klangteppiche, gewebt aus wenigen Synthesizer-Fragmenten und Stimmeinsprengseln, verstärken den Eindruck von Monotonie. Hunderte, tausende Jugendliche tanzen zu diesen Klängen stundenlang in stickigen Kellern oder inmitten von Waldlichtungen. Sie schreien, kreischen und werfen die Arme in die Luft. Sie nehmen MDMA, Kokain oder Speed, um sich aufzuputschen. Sie werfen LSD-Trips ein, um eine synästhetische Verbindung zu der Musik herzustellen. Ihr Tag beginnt selten vor Mitternacht und endet – irgendwann. Musik, ekstatische Bewegungen und Drogen lassen Zeitgrenzen verschwimmen.
So erleben die Protagonisten in Jürgen Teipels neuem Buch „Mehr als laut – Djs erzählen“ die späten Achtziger und Neunziger Jahre. Sie sind Disc Jockeys, Produzenten, Labelinhaber oder Clubbesitzer. Unter ihnen finden sich prominente Namen wie die Sängerin Inga Humpe (2raumwohnung), der Elektronikmusiker Richie Hawtin (Plastikman) und der Schriftsteller und Disc Jockey Hans Nieswandt (Whirlpool Productions). Teipel hat sie ab 2002 über einen Zeitraum von ungefähr drei Jahren begleitet und in Interviews befragt. Ursprünglich wollte er diese „Sofagespräche“ zur Grundlage eines Romans über die Clubkultur machen. Doch Teipel, Mitte der Achtziger Jahre selbst als Disc Jockey tätig, hat die gesammelten Gespräche aufbereitet und zu einer Interviewcollage arrangiert.
Formal knüpft er damit an sein Literaturdebüt „Verschwende deine Jugend“ an, eine Oral History über die deutsche Punk- und New Wave-Bewegung. Zeitlich und inhaltlich sind die Übergänge zwischen beiden Werken fließend, etwa wenn Inga Humpe oder der britische Musiker und Labelbetreiber Mark Reeder von ihrer Punk-Vergangenheit erzählen. Doch während „Verschwende deine Jugend“ ein existenzialistisch-verzweifelter Grundton durchdringt, herrscht in „Mehr als laut“ fast schon naiv neugierige Aufbruchsstimmung.
Teipels Gesprächspartner sind viel unterwegs. Sie erkunden die Clubszenen in London und New York und fliegen immer wieder nach Ibiza. Die Baleareninsel, seit den Sechziger Jahren ein Elysium der Alternativkultur, weckt in vielen die Lust am Musik- und Drogenrausch. So bestätigen die Erzählungen zunächst die Vorurteile, der sich die Rave-Kultur von Anfang an ausgesetzt sieht, dass die Szene außer einer „Lebe-im-Hier-und-Jetzt“-Haltung keine Inhalte habe. „Von zehn Leuten waren neun druff. Auch völlig unkontrolliert. Teilweise zehn Pillen am Abend“, erinnert sich der einstige Karlsruher und heutige Wahl-Berliner Kristian Beyer vom DJ-Duo Âme.
Auch extrem hohe Lautstärken und Partys unter freiem Himmel, etwa im Hinterland der kolumbianischen Hauptstadt Bogotà oder an einem Strand in Mexico, werden angesprochen. Michael Mayer, Mitgründer des Kölner Technolabels Kompakt, offenbart seine Angst vor einem Gehörsturz. Die Französin Caroline Hervé alias Miss Kittin und Mark Reeder fürchten sich vor der Eigendynamik von Menschenmassen, wenn 100.000 Menschen gleichzeitig aber dennoch unkoordiniert zum Rhythmus der Musik in die Luft springen. Überhaupt: Ängste sind bei fast allen Protagonisten von „Mehr als laut“ ein Thema. Sie haben Flugangst und Lampenfieber vor dem Auflegen. Sie fürchten das Alleinsein und die Leere nach einem Auftritt, die Kehrseiten der Euphorie.
Gleichzeitig lässt Teipel seinen Gesprächspartnern viel Raum, die negativen Etiketten der Rave-Kultur abzunehmen. Hans Nieswandt beschreibt die Musik, die Disc Jockeys und Tänzer als Energieformen, die in einer wechselseitigen Beziehung stehen und aufeinander einwirken. Der Hamburger Stefan Kozalla (DJ Koze) schwärmt von der Schönheit eines DJ-Sets, wenn sich die einzelnen Platten „zu so ner Riesenstraße zusammen [setzen]… dann verfließt das immer weiter. Das ist halt irre.“
Musik, zeitentgrenztes Feiern und hedonistische Exzesse bleiben aber nicht die einzigen Themen. Teipel, vielmehr seine Gesprächspartnerinnen, lenken den Blick auf die Gender-Ebene der DJ- und Clubkultur. DJ-Kanzel und Plattenladen sind weitestgehend männlich konnotierte Räume, in denen Frauen doppelt ausgegrenzt werden: als Newcomerin und als Frau. Sie müssen sich Sie müssen ihre Nischen und Freiheiten immer aufs Neue erkämpfen und verteidigen. So beispielsweise Helena Lingor, eine gebürtige Chemnitzerin. Sie lebt heute in Berlin und hat zu Beginn der Nuller Jahre Literaturwissenschaften in Freiburg studiert und als Stella Stellaire in Clubs aufgelegt. Sie artikuliert leise, aber dennoch sehr deutlich Kritik an der damaligen Großveranstalter- und DJ-Szene der Region. „Die wollten mich immer unter ihre Fittiche nehmen. Die Kleine! Unser Nachwuchstalent“, sagt sie. Mit einer Ausnahme. Der Leser erfährt auch, dass es der Freiburger Sebastian Stang war, der sie zum Auflegen gebracht hat. „Er war derjenige, der gesagt hat: „Ich weiß, du kannst das.““, zitiert ihn Lingor.
Exkurs: Sebastian Stang, vielen besser bekannt unter dem DJ-Alias Shaddy, ist immer noch aktiv in der Freiburger Musikszene. Zusammen mit Mark Burow betreibt er das Vinyllabel Foul & Sunk (Interview). Damals wie heute tritt er als Förderer auch junger Disc Jockeys und Produzenten auf. So hat der Freiburger Produzent Borrowed Identity (Porträt) auf seinem Label seine erste Vinylschallplatte herausgebracht. Im Spätsommer diesen Jahres haben Burow und Stang mit der Breisgau EP eine Minicompilation mit Tracks von ausschliesslich regionalen Künstlern veröffentlicht.
Ein aufrichtig gemeintes “Ich weiß, du kannst das”, ist eine kleine, wichtige Geste, weil sie Wertschätzung vermittelt. Und gerade hier, in der Darstellung solcher intimer Momente, offenbart „Mehr als laut“ seine große Stärke. Denn eine Szene lebt nur, wenn ihre Mitglieder zusammen halten. Erst dann kann sich ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln, das länger anhält als nur für eine Clubnacht. Michael Mayer, im Schwarzwald bei Offenburg geboren und heute untrennbar mit Köln und Kompakt verbunden, sagt deshalb auch zu Recht: “Ich sehe vor allem einen neuen Bedarf an familiären Strukturen. Auch im Geschäftlichen. Dass wieder die kleinen Netzwerke interessanter werden. Zusammenschlüsse von Menschen.”
[Diese Rezension wird auch in einer leichg geänderten Form in der Badischen Zeitung erscheinen]