Dienerstrasse 33, 8004 Zürich. Diese Adresse vermag es regelmässig, ein zartes Schaudern der Erinnerung bei mir auszulösen. Beheimatet sie doch einen Ort, an dem grosser Wert auf gute Musik gelegt wird, das / die Zukunft. Hier sind musikalische und künstlerische Grenzüberschreitungen möglich, deren Nährboden Vielfalt und Kreativität sind.
Leider viel zu selten führt mich mein Weg in die Limmatstadt und in das / die Zukunft. Trotz aller Bereitschaft, weder Kosten noch Mühen für eine Clubnacht zu scheuen und auch meine Gesundheit nicht zu schonen, ist der Aufwand nicht gerade gering, um diesen Ort, der mich so fasziniert, zu erreichen. Vergangenen Freitagabend musste ich jedoch sowohl mit meinem Geld- als auch mit meinem Gesundheitskonto verantwortungslos umgehen, beide überziehen, um einen seltenen und besonderen Gast zu erleben. Der Detroiter DJ und Produzent Keith Worthy (Aesthetic Audio, http://www.myspace.com/worthyisdeep) hatte sich angekündigt für eine Deep Heat Session, wie er es Wochen zuvor auf seiner MySpace-Seite kundgetan hatte.
Clubnächte wie diese verlangen meines Erachtens ein frühes Erscheinen. Nicht, weil man möglicherweise ab einer gewissen Uhrzeit in einer nicht enden wollenden Schlange, gegebenenfalls sogar bei frostigen Temperaturen, anstehen muss. Nicht, weil man als besonders hip gilt, wenn man möglichst spät erscheint. Nein. Ein Abend wie dieser erfordert ein langsames Eintakten in die Nacht. Abschalten, die Musik auf sich wirken und sich treiben lassen. Denn Musik bewirkt nicht einseitige Emotionen. In (guten) Clubs vollzieht sich ein ständiges Wechselspiel zwischen DJ und Crowd sowie den Nachtschwärmern untereinander. Der DJ drängt die Crowd voran, die Crowd treibt den DJ, es entwickelt sich ein Abend von ungeahnter Eigendynamik.
Kaum betrete ich das / die Zukunft, umspielen mich leise, sphärisch-wabernde Ambient-Flächen. Drumpoet und Soultourist Ron Shiller strapaziert die Equalizer des Mischpultes und blendet in “Love Tempo” von Agnès (http://www.discogs.com/Agn%C3%A8s-Love-Tempo-EP/release/1658435) ein und lässt den coolen Beat sanft kommen. Kurz nach Mitternacht, kaum dass der Club seine Türen geöffnet hat, tanzen die ersten Mädels. Gemeinsam mit seinem Label- und DJ-Kollegen, dem Lost Man Alex Dallas spielt er sich durch eine faszinierende Auswahl an langsam schiebender Housetracks mit Tiefgang, die er mit kosmischen Disconummern à la Lindström und Prins Thomas und und zahlreichen, mir unbekannten Edits und Reworks in einen fulminanten Mix giesst.
Es muss kurz nach ein Uhr sein, als ich das Gefühl habe, dass ein Schalter umgelegt wird. Die Bässe werden tiefer, eine einprägsame funky Hookline erklingt und wie aus dem Nichts heraus kommt ein Vocal-Sample. “Lost In Music“. Diese Worte zaubern ein Lächeln in unsere Gesichter, scheinen uns zu einer Einheit zusammen zu schweissen. “Lost In Music“, das Dogma der heutigen Nacht, sich aufgeben und die Musik die Kontrolle übernehmen zu lassen, sich zu verlieren. Ich lächle noch aus einem anderen Grund. Dieser Song ist einer der wenigen Edits, die ich erkenne: Sister Sledge – Lost In Music (The Revenge Edit). Augenblicke später wird Alex Dallas mit der neuesten Veröffentlichung auf seinem eigenen Label, John Dalys “Lonely Beat” (http://www.discogs.com/John-Daly-This-Is-A-Lonely-Beat-Tunnel-Vision/release/1678348) an seinen Gast aus Detroit, Keith Worthy, abgeben.
Der Detroiter setzt nahtlos am Groove der beiden Drumpoeten an. Auf einen stark mit Discobeats und Synthesizer angereicherten Track folgen eine massiv bouncende Bassdrum und schier endlose Wellen von Halleffekten. Keith Worthy führt die Crowd sanft in die unendlichen Tiefen des Dub- und Detroit-Techno und bringt u.a. “Coeur Etrange” von Don Williams (http://www.discogs.com/Shed-Don-Williams-1st-Bouquet/release/1162328). Ob in Freiburg so eine Platte ziehen würde? Ich weiss es nicht und kann es mir – ganz ehrlich – auch nicht vorstellen. Das / Die Zukunft jedoch kocht. In der Folgezeit reiht der Detroiter feinfühlig alte Techno-Klassiker in der Tradition erster Underground Resistance-Veröffentlichungen (“Your Time Is Up“, “Hi Tech Jazz“) sowie alte (Garage-)Houseplatten im Stile eines Jovonn (“I Want You“), ohne jedoch zu rückwärts gewandt und verkopft zu wirken. Keith Worthy weiss an diesem Abend zu bewegen und zu begeistern, zu seiner Musik findet an diesem Abend jeder einen Zugang, was auch und gerade die hohe Resonanz der Crowd beweist: noch um halb sieben Uhr ist die Tanzfläche randvoll. Und sehnsuchtsvoll blicke ich mich um, als er “Seduction” von Ron Trent gerade in dem Augenblick zu spielen beginnt, als ich den Club verlasse, um meinen Zug zu erreichen. Jedoch erliege ich sprichwörtlich dieser Verführung, bleibe noch für die Dauer dieses Tracks, und verpasse dadurch beinahe meinen Zug nach Freiburg.