Diskotheken: Räume für den Rausch der Nacht

Sie sind Orte für Erfahrungen am Rand der Wirklichkeit: Das Vitra Design Museum in Weil am Rhein zeigt eine Zeitreise durch sechs Jahrzehnte Clubgeschichte und das dazugehörende Design.

Wir sehen neue Menschen. Wir lernen neue Tänze. Wir sind, was passiert, singt Grace Jones. In wenigen Versen verdichtet, greift die Sängerin Bilder des Nachtlebens auf. Szenen am Rand der Wirklichkeit, die sich auflösen, kaum dass sie entstehen. Ihnen gibt das Vitra Design Museum in Weil am Rhein in der Ausstellung “Night Fever. Design und Clubkultur 1960 – heute” einen Raum. Und das ganz im Wortsinn.

Die Schau bietet Besuchern eine Zeitreise in die eigene Jugend und in die der Eltern. Sie dokumentiert sechs Jahrzehnte Clubkultur und Designgeschichte. Ein Team unter der Leitung von Vitra-Kurator Jochen Eisenbrand hat dazu tausende Veranstaltungsplakate, Fotografien, Baupläne, Möbel, Film- und Tondokumente gesichtet. Ein außergewöhnliches Projekt. Bisher waren Clubs kaum Objekt einer kanonischen Betrachtung.

Wir bewegen uns wie Geister, singt Grace Jones treffend im eingangs zitierten Song “Nightclubbing” weiter. So heißt auch ihr Album, das 1981 erschienen ist. Das Cover, eine schwarzblau kolorierte Fotografie von Jean-Paul Goude, zeigt die Sängerin. Sie trägt kurze Haare, ein Sakko des Modeschöpfers Giorgio Armani, eine Zigarette im Mundwinkel. Sie strahlt eine enigmatische Erotik aus, die beispielhaft ist für die Welt der Clubs. Diese sind Orte, an denen neue soziale Codes ausprobiert werden können.

Coverbild und Song gehören auch zu den Exponaten. Die Ausstellung widmet dem Klang der Nacht sogar einen eigenen Raum. Den haben der Industriedesigner Konstantin Grcic, der insgesamt die Gestaltung der Schau verantwortet, und der Lichtdesigner Matthias Singer in eine begehbare Installation aus 40 000 LED-Lampen und Spiegeln verwandelt. Die Lichtwelt aus Strukturen und Formen simuliert eine Clubwelt. Menschen verschwimmen zu Schemen. So fühlt es sich an, wenn man sich dem Rausch einer Nacht hingibt. Doch zunächst betritt der Besucher das Italien der Sechziger. Ein Schriftzug aus pinkfarbenen Neonröhren verdeutlicht, dass er sich jetzt in einer “Discoteca” aufhält. Ihre Architekten waren Vertreter des Radical Design. Zum Beispiel Giorgio Birelli, Carlo Caldini, Fabrizio Fiumi und Paolo Ginelli, bekannt als Gruppo 9999, die 1969 eine frühere Motorradwerkstadt in Florenz zum Space Electronic umbauten.

Sie verstanden den Raum als modulares Raster. Formbarkeit war ihr Maßstab für die Gestaltung. Mit textilen Segeln schufen sie Räume im Raum. Lichtinstallationen vermittelten optische Tiefe. Regelmäßig fanden auch Seminare der Architekturfakultät im Space Electronic statt. Im Italien der 60er Jahre war die Diskothek ein Ort, an dem gesellschaftliche Utopien auch diskutiert werden sollten.

Inspiration holten sich die Vertreter des Radical Design in New York, die zweite Station der Ausstellung. Der Gruppo 9999 beispielsweise besuchte den Club Electric Circus, 1967 in einem ehemaligen Konzerthaus im East Village eröffnet. Das Quartier war Heimat von Künstlern wie Andy Warhol, nach Grace Jones die zweite Leitfigur der Schau. Am Beispiel des Electric Circus wird deutlich, dass Licht und Sound zunehmend an Bedeutung für Clubs gewinnen. Synthesizer-Pionier Don Buchla entwarf das Soundsystem. Bands wie Deep Purple spielten zu Beginn ihrer Karriere dort. Elektronikpionier Morton Subotnick brachte Stroboskop-Installationen in den Raum. Betrachtet man Fotografien dieses Treffpunkts, kann man den Geruch von Patchouli und Haschisch beinahe riechen, der den Electric Circus durchzogen haben muss.

In den Siebzigern begann ein Prozess, der in den Achtzigern kulminieren sollte. Der Club entwickelte sich zu einer Institution in der Mitte der Gesellschaft. Allein in den USA eröffneten 8000 Tanzlokale. Doch die Strahlkraft eines Clubs stellte alle anderen in den Schatten: Am 26. April 1977 eröffneten Ian Schrager und Steve Rubell das Studio 54 im New Yorker Stadtteil Manhattan, bis heute der Inbegriff für ausschweifende Nächte. Sie verpflichteten den Architekten Scott Bromley und Designer Ron Doud für den Umbau des einstigen Broadway-Theaters. Deren Ansatz: Jeder Gast sollte im Mittelpunkt stehen. Und so gestalteten sie die Theaterbühne zur Tanzfläche um.

Club Palladium, New York, 1985 (Foto: Timothy Hursley)

Spätestens jetzt vollzog sich im Nachtleben ein Paradigmenwechsel. Man ging aus, zum Sehen und Gesehen werden. So singt es auch Grace Jones in “Nightclubbing”. Zur Eröffnung des Studio 54 erschien sie nackt. Eine überlebensgroße Fotografie an einer Wand im Vitra Design Museum zeigt sie knapp bekleidet am Tresen des Studio 54. Das Hippie-Mantra “All You Need Is Love” war endgültig Geschichte. Jetzt ging es um Äußerlichkeiten, Warhols 15 Minuten Ruhm. Die Architektur der Clubs begünstigte eine Konzentration des Einzelnen auf sich selbst.

Als Höhe- und Wendepunkt dieser Zeit gilt der Film “Saturday Night Fever” aus dem Jahr 1977, dessen Titel auch Pate steht für die Ausstellung in Weil. Das Vitra Design Museum zeigt einen Ausschnitt von John Travoltas legendärer Tanzszenen als Tony Manero, dem Italo-Amerikaner aus Brooklyn. Disco war nun auch als Musik nicht mehr die Hymne schwarzamerikanischer und schwuler Subkulturen. Als Soundtrack der Selbstinszenierung hielt Disco Einzug in die Pop-Charts.

Nicht nur das ist in der Schau zu verstehen, die nun ein schnelles Bild der Folgejahre entstehen lässt. Das Aufkommen der Immunschwächekrankheit Aids und die Rückkehr konservativer Wertvorstellungen drängten Disco, das Genre und den Club, zurück in den Untergrund. Der Rückzug fiel noch glamourös aus. Das zeigen Fotografien aus dem Palladium, dem vom japanischen Architekten Arato Isozaki gestalteten Studio-54-Nachfolger und die skurrilsten Exponate der Ausstellung: handgefertigte Einladungskarten zu Partys des New Yorker Clubs Area. Seine Betreiber, die Geschwister Eric, Christopher und Jennifer Goode, trieben das Spiel von Form und Mimesis auf die Spitze. Sie entwarfen künstliche Welten zu Themen wie “Haft” und “Science-Fiction”. Als Einladung verschickten sie Schmelzkäse, auf dessen Cellophanhülle Datum und Uhrzeit der Party standen. Auch hier war Grace Jones Stammgast.

Noch mehr Fahrt nimmt die Ausstellung auf, wenn es in die Gegenwart geht. Sie streift Belgiens New Beat-Szene, Acid House und den Club Hacienda in Manchester und macht schließlich Station in London und Berlin. Damit verschiebt sich auch der Schwerpunkt der Ausstellung. Statt Raumgestaltung geht es um die Frage, wie Clubkultur in das öffentliche Gepräge einer Stadt passt. Steigende Grundstückspreise haben in London Verdrängungseffekte ausgelöst. Dort ging die Zahl der Clubs von 3100 im Jahr 2005 auf 1700 im Jahr 2015 zurück. Doch Pessimismus ist vielleicht nur in der westlichen Welt angesagt. In der Ukraine und in Georgien tragen Clubs das Erbe von Discjockeys wie Larry Levan weiter. Architekten wie Thomas Karsten und Alexandra Erhard, die den Umbau des Berliner Techno-Clubs Berghain geleitet haben, sind an Bauprojekten in Kiew und Tiflis beteiligt. Neue Menschen sieht man, neue Tänze lernt man nur, wenn man in Bewegung bleibt. Das mag die zuversichtliche Botschaft der Ausstellung “Night Fever” sein.


[Dieser Beitrag erschien zuerst am 16. März 2018 in der gedruckten und digitalen Ausgabe der Badischen Zeitung.]

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