Was bringt Jugendliche dazu, Industriebrachen in ihrer Stadt zu erkunden, in alte Kanalsysteme und Bunker hinabzusteigen oder leerstehende Häuser zu besetzen? Was lässt sie Papiergirlanden, Mobiles aus Eisenschrott und Leuchtstoffröhren basteln und damit dunkle, moderfeuchte Keller zu dekorieren und in Kleinkunsträume zu verwandeln? Was vereint nihilistische Punks, naturverliebte Hippies, linksintellektuelle Akademiker, Schwule und Hooligans? Es ist eine „neue Musik, ein neuer Stil, total elektronisch. Keine Songstrukturen mehr.“ Es sind House und Techno.
In ihrem Mitte März diesen Jahres erschienenen Buch „Der Klang der Familie: Berlin, Techno und die Wende“ werfen die Wahlberliner Felix Denk und Sven von Thülen Licht auf die Anfangsjahre der House- und Technoszene, wie sie sich im subkulturellen Dickicht aus Lederjackenpunks, Avantgardekünstlern und Breakdancern im Berlin der Wendejahre entwickelt hat. Über ein Jahr haben Denk und von Thülen, beide in Berlin als Journalisten tätig, dafür Vorkämpfer und Wegbereiter der elektronischen Musikszene befragt. Sie haben mit Musikproduzenten und Disc Jockeys wie Tanith oder Paul van Dyk, heute einer der bestbezahlten DJs und Lufthansa-Vielflieger mit HON Status, gesprochen. Sie lassen Dimitri Hegemann, Gründer und Betreiber des legendären Clubs Tresor sowie dessen Gründungspartner Johnnie Stieler zu Wort kommen. Auch Stieler gestaltet heute noch aktiv das Berliner Nachtleben mit. Er betreibt den Club Horst Kreuzberg. Aber auch Türsteher und Nachtschwärmer berichten ihre Erfahrungen; alles Menschen, die „zu einer Zeit gelebt [haben], in der normale Menschen geschlafen haben.“
Deren Erzählungen und rückblickende Reflexionen haben die beiden Journalisten ausgewertet und in Dialogform aufbereitet. Das montierte Rundtischgespräch lässt zwei Vorbilder erkennen: „Please Kill Me“ (1996) von Legs McNeil und Gillian McCain, eine Oral History der New Yorker Punk-Bewegung Mitte der Siebziger Jahre mit Interviews von Patti Smith, Iggy Pop und Lou Reed, sowie Jürgen Teipels „Verschwende deine Jugend“ (2001), ein Interviewportrait der deutschen Punk- und New Wave-Bewegung Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre.
„Der Klang der Familie“ knüpft zeitlich fast nahtlos daran an, konzentriert sich räumlich jedoch nahezu ausschließlich auf beide Teile Berlins, damals noch durch die Mauer in Ost und West getrennt. Im Westteil der Stadt herrschte subkultureller Stillstand. „Die Frische war weg, das Spontane.“ Punk war tot. Stattdessen: Langeweile, schläfrige Lethargie, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Ganz anders dagegen die Verhältnisse in Ost-Berlin: Zwar hatte Erich Mielke, der damalige Minister für Staatssicherheit der DDR, „Härte gegen Punk“ befohlen und damit sämtliche Jugendsubkulturen dem Generalverdacht unterzogen, subversive, anarchische Aktivitäten gegen den Staat zu planen. „In der DDR gab es einen Gummiparagrafen, der es dem Staat erlaubte, dich wegen asozialen Verhaltens in den Knast zu stecken. Und asozial war schon, wenn du nicht nachweisen konntest, wovon du lebst“, erinnert sich Arne Grahm, der jahrelang den Einlass an der Tür des Tresor geregelt hat.
Doch rund um den Alexanderplatz und im Halbdunkel mancher Ostclubs wie dem Operncafé oder Café Nord, keimte dennoch so etwas wie eine oppositionelle Jugendbewegung auf, unterhalb des Strafradars der SED-Tugendwächter: Die Breakdance-Szene, untermalt von Musik aus dem Westen. Träger der Veränderung: Das Westradio; die Sendungen von David Rodigan (Reggae, Dub), John Peel (Punkrock, Elektronika) und Monika Dietl; Techno auf Label wie Metroplex oder KMS, Acid House auf Label wie Jack Trax und Trax Records. Dietl löste mit ihrer Musikauswahl bei ihren treuen Ost-Hörern, die schon lange in einem Zustand der inneren Emigration verharrten, ein tiefes Glücksempfinden aus. „Was ist denn das? Acid House? Wow!“
Und dann geht alles sehr schnell: Mauerfall, Wende-Euphorie, Freiheit. Von einem Tag auf den anderen befinden sich beide Seiten dieser Musikenthusiasten, in Ost und West, auf einem schweißtrunkenen, adrenalin- und drogengeschwängerten Roadtrip, dessen geistige Überväter Jack Kerouac und Hunter S. Thompson sein könnten. Die Jugendlichen ziehen in leerstehende Fabrikhallen und stillgelegte Heizkraftwerke ein. Sie beleben diese mit ihrer Musik, teils ohne, teils mit gefälschten Genehmigungen. Die zusammenwachsende Stadt – ein grenzenloser Abenteuerspielplatz. Dazu Clemens Kahlcke, als DJ Clé von Anfang an dabei: „Wir haben in Clubs gespielt, die keinem gehörten, in Stadtteilen, für die niemand zuständig war, in Gebäuden, die es laut Grundbuch gar nicht gab.“
Die Szene wächst schnell und verfestigt sich. Eine ganze Reihe neuer Clubs werden im Berlin der Neunziger Jahre eröffnet: E-Werk, Planet, Bunker und nicht zuletzt der Tresor. Trotz zwischenzeitlichen Ortswechsels und damit einhergehender Schließung hat dieser bis heute nur wenig von seiner Strahlkraft verloren.
Denk und von Thülen lassen ihre Gesprächspartner thematisch immer weitere Kreise ziehen. Sie sprechen über die US-amerikanische Industriestadt Detroit, dem musikalischen Sehnsuchtsort zahlreicher Techno-Enthusiasten. Zwischen einigen Berliner Disco Jockeys und Detroiter Produzenten entsteht eine langanhaltende freundschaftliche Beziehung. Manch ein Detroiter Musiker wie Blake Baxter verlässt sogar seine angestammte Heimat und zieht an die Spree. Das unsichtbare Band, das diese schwarzamerikanischen Musiker mit dem Berliner Techno-Untergrund verband, war ein allesverzehrender Wunsch nach Freiheit und einer besseren Zukunft. Dazu Robert Hood: „Mir kam das so vor, dass die ihre Vergangenheit loswerden wollte, und wir wollten unsere Vergangenheit des Rassismus loswerden. Eine bessere Zukunft war das Band, das uns verband. Nach einer besseren Welt zu suchen.“
Doch in der Euphorie des Hypes zeigt sich schon bald eine dunkle Seite: Zum einen werden Musikindustrie und Wirtschaftsunternehmen auf den hyperflotten, subkulturellen Nonkonformismus der „Raving Society“ aufmerksam. Firmen, die bei der Jugend Fuß fassen wollen, beauftragen fortan Agenturen, die Kampagnen und Partykonzepte entwickeln. „Der Konflikt war: Ehrliche Kultur oder Profit?“ Zum anderen sind es die Drogen. Die Nachtschwärmer waren nicht nur vereinnahmt vom treibenden, körpergreifenden House-Groove. Sie konsumierten auch jede Menge Drogen, vor allem Ecstasy. Clemens Kahlcke beschönigt nichts, wenn er von dieser Zeit spricht: „Pillen waren plötzlich überall… Man musste sich nur in die Augen schauen und wusste gleich Bescheid.“
Doch gerade hier, in der Darstellung der menschlichen Schwächen, offenbart „Der Klang der Familie“ seine große Stärke. Denn die Zeitzeugen bedecken rauschbedingte Torheiten zu keiner Zeit mit dem Mantel des Stillschweigens. Und Erst dadurch wird abstrakten Begriffen wie Rausch, Lebenslust und Ekstase Inhalt und Leben eingehaucht.
– Felix Denk, Sven von Thülen, Der Klang der Familie: Berlin, Techno und die Wende., Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 423 Seiten, 14,99 Euro
[Diese Rezension wird auch in leicht gekürzter Fassung in der Badischen Zeitung erscheinen]