Nach Sonus und SEMF (Stuttgart Electronic Music Festival) ist das Sea You-Festival das jüngste Produkt des Ludwigshafener Veranstalters Cosmopop, bekannt geworden durch die Time Warp-Events in Mannheim. Diese finden mittlerweile auch in Italien, den Niederlande und Argentinien statt. Für das Kulturressort der Badischen Zeitung habe ich mich am Tunisee einmal umgeschaut:
Der Bass drückt, schiebt, bollert. Scharfe, metallische Rimshots knattern und rattern mit Snaredrums um die Wette. Hi-Hats zischeln. Kickdrums poltern und donnern. Schiene die Sonne am Samstag nicht von einem stahlblauen Himmel herab, könnte man denken, es zöge von ferne ein Gewitter auf. Es ist Open Air-Wetter am Tunisee bei Freiburg, wie bestellt zum Einstand des neuen Techno-Festivals “Sea You”, ausgerichtet von der Agentur Cosmopop. Seit 1994 organisiert das Unternehmen mit Sitz in Ludwigshafen Techno-Parties unter der Marke “Time Warp”. Diese Events finden in Mannheim, Utrecht, Mailand und seit Mai 2014 in Buenos Aires statt. Entsprechend lang ist die Liste an Disc Jockeys und Live Acts, die am Wochenende zum ersten Mal an den Tunisee kamen.
Zu ihnen gehörten der Frankfurter Robert Dietz und Moe Espinosa alias Drumcell aus Los Angeles. Aus Boston reiste das Duo Soul Clap, aus San Francisco die Band Pillow Talk an. Allen voran aber führten das Programm an: Loco Dice und Richie Hawtin. Loco Dice, der eigentlich Yacine Ben Achour heißt und im August 40 Jahre alt wird, hat seine Karriere in den 1990er Jahren in Düsseldorf als HipHop-DJ begonnen. Er ist wohl der einzige Techno-DJ, der schon einmal zusammen mit den Rappern Ice-T und Chuck D von Public Enemy eine Festivalbühne bespielt hat. Das war 2012 auf dem Movement Electronic Music Festival, das jährlich in Detroit, der Mutterstadt des Techno, stattfindet. Noch vor einer Woche war er auf Tour in den USA, spielte zwei Sets in Miami und gleich vier in New York. Jetzt steht er ganz ruhig da auf der “Float” genannten Seebühne. Ihr weißes Dach strahlt in der Nachmittagssonne. Ihre strahlenförmige Architektur erinnert ein wenig an das Opernhaus im australischen Sydney.
Wenn Dice die Knöpfe des Mischpults dreht und verzwirbelt, wenn er Tonspur auf Tonspur schichtet, bewegt er sich kaum. Er bildet einen krassen Gegensatz zum körperlich wirkenden Bass seiner Stücke, die vor Funk nur so strotzen. Diese schwarzamerikanische Musik hat über den Umweg durch zahlreiche Kellerstudios in Chicago und Detroit auch Eingang in den Maschinensound der elektronischen Musik gefunden.
Er bildet auch einen krassen Gegensatz zu den zehntausend Gästen, die das Festival jeweils am Samstag und Sonntag besuchten. Die meisten von ihnen sind zwischen 18 und 45 Jahre alt. Sie stehen dicht aneinander gedrängt, Körper an Körper. Den Blick haben sie auf die Seebühne gerichtet. Sie stellen den rechten Fuß nach vorne, ziehen links nach. Sie stellen den linken Fuß nach vorne, ziehen rechts nach. Mit nach innen oder außen gedrehten Fußspitzen stampfen sie auf. Stomp. Techno, elektronische Musik im allgemeinen, hat keinen Schrittkodex hervorgebracht. Wer zu ihr tanzen möchte, legt einfach los. “Das ist wahre Freiheit. Das macht dich und mich zum Freund. Techno verbindet”, sagt Andreas. Der 20-Jährige ist mit Freunden extra aus Rom angereist, um zu tanzen und neue Menschen kennen zu lernen. Die Römer sind aber auch angereist, um ihn zu sehen: Richie Hawtin, 44, geboren im englischen Oxfordshire, aufgewachsen in Windsor/Ontario, dem kanadischen Gegenstück zu Detroit.
Hawtin ist der Weltstar unter den rund 35 Techno-DJs am Tunisee. In den frühen 1990er Jahren zeigte er mit seinem Plastikman-Projekt, wie viel klangliche Urgewalt man aus ein, zwei analogen Drummaschinen und Synthesizern heraufbeschwören kann. Wer damals zu seinen Auftritten fuhr, wollte durchdrehen, die totale Ekstase.
Genauso ist es auch am Tunisee. Wie Dice eröffnet Hawtin, der mittlerweile in Berlin lebt und auch schon einmal die berühmte Rotunde des New Yorker Guggenheim-Museums mit einer multimedialen Live-Show bespielt hat, sein Set mit einem wilden Trommelwirbel. Der Bass drückt, schiebt, bollert. Die Festivalgäste reißen die Arme in die Höhe. Sie johlen, pfeifen, kreischen. Schweiß rinnt über den ganzen Körper. Sie wirken hochkonzentriert, selbstvergessen, zeitverloren. Und glücklich.
[Dieser Beitrag erschien auch in der Badischen Zeitung; beide Daumen hoch auch für DJ Koze, Nina Kraviz (Bild), Konstantin Sibold und Pillow Talk]