Redshape

Spätestens seit den TV-Werbespots, die ein im Wochenrhythmus erscheinendes Nachrichtenmagazin in Auftrag gegeben hatte, wissen wir, was zählt: Fakten, Fakten, Fakten. Lassen sich diese allerdings nur aus an der Hand abzählbaren Lebenssachverhalten herausfiltern, was dann? Dann ist dem journalistisch Tätigen erlaubt, was Milan Kundera in seinen Essays über das Schreiben auf den Punkt gebracht hat: ein unbekanntes Terrain zu beschreiten.

Nahezu ausnahmslos beschreitet unbekanntes Terrain, wer sich an Redshape anzunähern, ja heranzuwagen. Redshape ist eine terra incognita, von der so viele Karten in Umlauf sind, wie es an Redshape Interessierte gibt. Wer oder was verbirgt sich nun hinter diesem Begriff?

2006 erschienen auf dem niederländischen Plattenlabel für elektronische Musik Delsin zwei extended play Schallplatten (EP) namens “Misc Usage” und “Shaped World”, die das reiche Erbe des Detroit Techno der späten 80er und frühen 90er Jahre anzutreten schienen. Letztere erfuhr einen derart grossen Zuspruch, dass sie bis in die Top Ten Charts von de:bug und Groove gelangte. Verantwortlich zeichnete dafür ein Künstler, der bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht (oder noch nicht so?) in die Öffentlichkeit getreten war: Redshape. Innerhalb kürzester Zeit stieg die Nachfrage nach diesen frischen, unverbrauchten Technoklängen, die trotz aller Härte einen hohen Grad an Funkiness und Soul aufwiesen; und damit ein weiteres musikalisches Erbe der MotorCity verarbeiteten.

Nachdem mit “Telefunk” auf Styrax Leaves eine weitere Platte den Künstler Redshape als Urheber auswies, wurde das Verlangen laut, zu wissen, wer sich denn hinter diesem Pseudonym verstecke. Anfragen an die Plattenlabel wurden – wenn überhaupt – nur ausweichend und mit Allgemeinplätzen beantwortet. “A berlin based producer“, ein in Berlin beheimateter Produzent. Schallplatten und eine vage Ortsangabe, das waren die einzigen Fakten. War bzw. ist Redshape einfach nur eine gut durchdachte Marketingstrategie? Erste Versuche, diesen Künstler für die musikalische Gestaltung eines Clubabends ins Programm zu nehmen, wurden von den Labels positiv beantwortet, und so erhoffte sich die Bereichsöffentlichkeit der Anhänger elektronischer Klänge endlich die langersehnte Aufklärung über die Person dieses Produzenten. Welch grosse Enttäuschung. Zwar erschien Redshape, doch: nicht einmal am Ende der zahlreichen Abende, an denen er seine Fähigkeiten als Live Act oder an den Plattentellern unter Beweis stellte, nahm er seine Gesichtsbedeckung, seine blutrote Maske ab. Sein wahres Gesicht, seine wahre Identität hielt er damit im Verborgenen. Bis heute. Die dahinter stehende Person verwandelt(e) sich durch Anlegen der Maske in die sie darstellende Figur. Redshape.

Nicht lange liessen die ersten Gerüchte auf sich warten. Diese Klänge, diese harten Beats, diese Rhythmik könne nur ein Künstler schaffen, der seit den Anfängen des Techno / Detroit mit dabei war. Gleichzeitig auch Ausnahmetalent an den Plattenspielern und am Mischpult. Dies könne nur ein erfahrener und kein Bedroom- oder College-DJ sein. So kommt es, dass objektive Realitäten – in Berlin beheimatet, Techno / Detroit, rote Maske – und die zahlreichen psychischen Realitäten der Redshape-Anhänger in ihren Gedanken und Vorstellungen diesem Künstler zu eine Traumexistenz verhelfen, die ihn schon jetzt zu einem Mythos werden lässt. Und der Künstler selbst? Die Maske schützend vor seinem Gesicht, vor seiner Identität, vor seiner Person haltend, scheint er unbeeindruckt zu bleiben. Er verkörpert (nur) die Rolle des Redshape. Und seine Musik. Nicht mehr, nicht weniger. Den Zeitpunkt aufzuhören, bestimmt allein er selbst. Legt er die Maske ab, verbleibt sein Ich, das unverbraucht nach vorne schreiten kann.
Nach oben scrollen