Visionäre Kunst. Visionärer Künstler. Beides sind Reizworte. Für mich, für viele andere auch, gerade im Zusammenhang mit elektronischer (Club-)Musik. Denn auf der einen Seite verlangt gerade auch der Schreiberling, dass dem musikalischen Erbe gehuldigt wird, dass Traditionen jeglicher Art gewahrt werden. Auf der anderen Seite verlangen dieselben jedoch regelmässig Kunstwerke, entstanden in einem geheimnisvollen Laboratorium aus nichts als einem vorausdenkendem Geist. Ist von visionärer Kunst, von einem visionären Künstler die Rede, erwarte ich selbst keine kühnen Konstrukte von etwas Zukünftigen und völlig Unwägbarem. Meiner Meinung nach erfindet der Visionär keine artifizielle Zukunft, deren Eintrittswahrscheinlichkeit gegen Null strebt. Es geht vielmehr um sein inneres Gesicht, das er – da flüchtig und fragil – in Skizzen und Notizen festzuhalten, zu verkörpern versucht. Das (kulturelle) Erbe der Vergangenheit hat er tief verinnerlicht, doch lebt und arbeitet er nicht rückwärtsgewandt. Scharf beobachtet er das Hier und Jetzt und ist dem Zeitgeist stets einen halben Schritt voraus. Bewusst schreibe ich “halber Schritt”. Denn ein Visionär ist für mich kein Phantast.
In gewisser Weise sind diese Gedanken übertragbar auf Lucretio. Tief verinnerlicht hat er die historischen Wurzeln von House und Techno. Daran bestehen keine Zweifel. Zwar könnten seine Tracks gerade so gut “damals” – ihr wisst schon – entstanden sein. Doch der Abstand zum vorbekannten Formenschatz ist gegeben. Sätze, die mit “klingt wie” beginnen, werden hier keine fallen. Das mag – unter anderem – auch auf die Produktionsweise von Lucretio zurückzuführen sein. Er – übrigens auch sein Produktions- und Restoration-Partner Marieu – nimmt seine Stücke in einem Satz auf. Keine Nachbearbeitung. Analog, roh und unbelassen sind bei ihm keine blossen Schlagworte. Und dass er seine Sessions auf Tape Decks aufnimmt und diese als Vorlage für die Vinylpressung nimmt, erscheint da nur konsequent.
Deswegen sind die vier Tracks auf Range Gate auch ganz bestimmt nicht jedermanns Sache. Denn es kann schon sein, dass die Synthies für den Bruchteil einer Sekunde zu heiser klingen; dass die Rimshots oder Claps mit einem halben Takt Verzögerung einsetzen; ganz so, als ob der Musiker / Urheber seinen Einsatz unbewusst versäumt habe; mal ist der Bass “zu leise” oder nimmt erst im Verlauf des Tracks an Intensität zu. Ein an totgemasterte, jeder Lebendigkeit und Natürlichkeit beraubter Produktionen gewohntes Ohr wird sich damit sicher zu Beginn schwer tun. Für mich macht gerade dies jedoch den Reiz dieser Tracks aus. (Geheim-)Tipp!
English (short) version: three tracks meandering between raw, analogue techno with a dark, industrial (“Curfew”) and deep ethereal (“A Mountain”) atmosphere, and a dubby yet steppy tune (“Albatros”) that rounds up this superb EP by Italy born, now Berlin based dj / producer Lucretio.
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