Unser Verhältnis zu Hits oder äusserst erfolgreichen Produktionen ist gespalten. Auf der einen Seite halten wir den Leitsatz “more hits” besonders hoch. Wir wollen Songs, keine Tracks. Wir wollen Songs, die einen beim ersten Mal anhören sofort ansprechen und tiefe Gefühle auslösen; Songs, deren Harmonien und Melodien sofort ins Blut und damit ins Herz übergehen; Stücke, die in einer einzigen Nacht zum Klassiker avancieren, die weltweit aus Clubs und von Festivals nicht mehr wegzudenken sind und damit auch weit über eine abgrenzbare Szene hinauswirken. Lasst es in diesem Jahr “Ragysh von Todd Terje oder Osunlades “Envision im Remix des Karlsruher Duos Âme oder “I Need A Dollar” von Aloe Blacc einschliesslich der “Überarbeitung durch Tensnake im vergangenen Jahr sein. Man könnte an dieser Stelle jede Menge anderer Musiker anführen. Doch die erwähnten Künstler haben es gerade für den Genrebereich House getan: Hits geschrieben. Sollten wir, gerade auch wir kritischen, teilweise zur Nostalgie neigenden Beobachter nicht darüber froh sein, dass so etwas auch heute noch möglich ist? Sollten wir diese Hits nicht als magischen Türöffner zu einer fast vergessenen Zeit, der goldenen Disco-Ära der Siebziger Jahre, verwenden?
Auf der anderen Seite setzt bei vielen von uns ein Prozess ein, der die Herzensbindung zu diesem Song allmählich auflöst. Mit der Zeit nehmen wir sogar eine Gegenposition ein. Wir können ihn nicht mehr hören. Vielleicht hassen wir ihn sogar. Dies geschieht sehr oft in dem Augenblick, in dem das Musikstück beginnt, sein Hitpotenzial zu entfalten. Und spätestens dann ist der Ablösungsprozess vollzogen, wenn das Gros der Gäste auf der Tanzfläche eines Clubs von den Gefühlen und Stimmungsbildern, die dieser Song transportiert, ergriffen wird. Was ist geschehen? der Song ist noch immer derselbe. Nur wir wenigen, die wir über Insiderwissen verfügen, empfinden nicht mehr so. Wir fühlen uns dieses Spezialwissens beraubt, fühlen uns verraten, denn unsere Kraftquelle, bisher unantastbar gewesen für Aussenstehende, gehört nicht mehr uns alleine. Diese intime Beziehung müssen wir von nun an mit einer Vielzahl uns unbekannter Menschen teilen. Auf einmal können wir uns nicht mehr freuen. Und plötzlich regen sich kritische Stimmen. Sie mahnen eine beginnende musikalische Verflachung an. Sie glauben, in den jeweiligen DJs und Produzenten einen ersten Ansatz von künstlerischer Eindimensionalität und Ausverkaufstendenzen zu erkennen. Sie befürchten, “ihre” Helden könnten einer Kommerzialisierung unterliegen.
Dann tritt sehr oft ein, was – wenn auch sprachlich unpräzise – als Rückzug bezeichnet werden kann: Wir beginnen, uns an alte Hits, an Klassiker, zu erinnern. Wir tauchen mit schwärmerisch schwelgenden Gedanken ein in die Zeit ihrer Entstehung und ihrer glanzvollsten Sternstunden in Radiosendungen und auf der Tanzfläche. Auf Grund dieser völligen Hingabe vergessen wir jedoch, dass wir dazu neigen, jegliches Geschehene, also auch Hits, mit der zunehmenden räumlich-zeitlichen Entfernung zu verklären. In das gedankliche Bild mischen sich eigene Hoffnungen und Wünsche. Hinzu kommen noch Klischeebilder, die in unseren Köpfen aus Unerfahrenheit verankert sind. Wir beleben “French Kiss” von Lil’ Louis, “Tears” von Frankie Knuckles, Songs von Ten City, Colonel Abrams oder Adeva. Doch wir leben nicht, wie es damals tatsächlich war, sondern wie es gewesen sein muss.
Die genannten Songs, deren Produzenten, sind unangreifbare, und falls dennoch angreifbar, zumindest uneinnehmbare Bastionen der House Musik. Zu ihnen zählen auch zahlreiche Stücke, die auf dem Label Strictly Rhythm veröffentlicht wurden; ein Label, das man durchaus in die Tradition der Big Four der Dance Music, West End Records, Atlantic Records, Salsoul Records oder Prelude, stellen darf. Hier, auf Strictly Rhythm, erschien zu Beginn der 90er Jahre auch “Give You”. Produziert hat es Dario Mancini alias Djaimin, im Hintergrund wirkte ein gewisser Michael Anthony Hall alias Mr. Mike mit. Dessen Radiosendungen, ausgestrahlt auf Couleur3, hörte ich damals, zu Beginn der Neunziger Jahre, mit grosser Begeisterung. Der vorgestellte SOund war so anders, als die Musik, die die Anführer der Peer Groups an der Schule als “gut” oder “schlecht” für einen auswählten. Da ich weder Grunge noch Pop à la Roxette mochte, waren Couleur3 und Mr. Mikes Radiosendungen Fluchtmöglichkeiten in musikalische Welten, in denen Freiheit herrschte. “Give You” war einer meiner ersten House Songs, an den ich mich erinnern kann. Ein Hit.
Da in der Folgezeit bei Djaimin nicht mehr allzu viel passierte, oder anders ausgedrückt: Da im Lichte seines Überhits jede weitere, ihm nachfolgende Produktion zwangsläufig verblassen musste, sag(t)en einige auch hier, dass es nicht angehe, einen solchen Song zu feiern. Doch wie ist das mit der Maxime “It got me dancing” / “It got me into house music” zu vereinbaren? Sollte nicht auch gerade dies die Aufgabe eines Hits sein, andere Menschen aufmerksam und neugierig auf ein Genre zu machen, mit dem sie sonst kaum in Berührung gekommen wären? Sollte ein Hit nicht auch Liebe und flammende Leidenschaft für ein Genre wecken? “Give You” ist einer meiner ersten House Songs, an den ich mich erinnern kann. Damals, am Anfang der Teenagerzeit stehend, war ich noch unbedarft und hatte ein nur mässig ausdifferenziertes Bild von musikalischen Genre. Doch dieser Überhit, auch kommerziell erfolgreich, entzündete ein Feuer, das bis heute brennt. Warum also dürfen dies nicht auch heute noch Songs tun, grosse Gefühle wecken und Leidenschaften auslösen? So, wie mich “Give You” (und einige weitere Platten) zu House brachten, können auch heute Songs wie das hier immer wieder zitierte “Envision” zu diesem wundervollen Genre hinführen. Und wie schön wäre es, wenn in sagen wir einmal zwanzig Jahren, jemand sagen wird: “Envision? Mit diesem Song fing sie an, meine Liebe zu House, von da an ging ich auf die Suche nach weiteren Songs, die mich so tief berühren würden…”
Djaimin – Give You (Zanz Mix) @ YouTube
Mehr im Web: eine VIVA-Sendung über Djaimin, New York, Strictly Rhythm, Tony Humphries, und, und, und. Must Watch!
Emission Viva sur Djaimin Pt. 1
Emission Viva sur Djaimin Pt. 2
Emission Viva sur Djaimin Pt. 3
[A TV show that speaks of Clubbing in the 90’s with DJ Djaimin the Difference, Mr. Mike Studio highlight the mad club Neuchatel New York club and Tony Humphries and all the protagonists of the House scene in Switzerland and also DANCEFLOOR SYNDROMA.]