Lange nichts mehr gehört von Herrn Murakami aus Japan. Dass in regelmässigen Abständen mein Assoziationsgaul nach freiem Auslauf verlangt und entsprechend mit mir durchgeht, habt ihr mit grosser Wahrscheinlichkeit schon festgestellt. Auch bei dieser 12″ hatte er das Bedürfnis, auszubrechen. Er führte mich in die Erinnerungswelten zu einer von mir sehr geschätzte Fernsehsendung, und zwar “Das literarische Quartett”. Genauer: zu der Sendung vom Juni 200, in der es zum Eklat zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler kommt (nacherlebbar hier). Streit entbrennt zwischen den beiden aufgrund diametral abweichender Meinungen zu “Gefährliche Liebschaften”, einem Roman des japanischen Autors Haruki Murakami. Sigrid Löffler bezeichnet es als “literarischen Fastfood”, kritisiert den Inhalt in der Folge als “sprachloses, lustloses Gestammel” und spricht dem Werk jegliche Erotik ab. Marcel Reich-Ranicki hingegen lässt sich zu der Aussage hinreissen, dass er eine solche Liebesszene noch nie gelesen habe und dass es sich bei “Gefährliche Liebschaften” um ein “hocherotisches, sich steigerndes Buch” handele. Grossartig. Möge er, Marcel Reich-Ranicki, ewig leben!
Welches Urteil würde er über “Underworld”, der neuen EP des japanischen Produzenten Ryo Murakami aussprechen, wäre er ein ebenso leidenschaftlicher Kritiker der elektronischen (Club-/Tanz-)Musik? Ich weiss es nicht. Zunächst einmal gilt bei dieser 12″ festzuhalten, dass sie nicht auf dem grossen Labelimperium Poker Flat / Dessous erscheint, auf dem der Japaner in den Jahren zuvor öfters einen Auftritt hatte. Sie trägt die Insignien von baud, einem kleinen, 2009 gegründeten Label. Sicher darf man dieses noch zum Underground zählen, auch wenn in der erst zweijährigen Geschichte bereits beachtliches Material unter seinem Namen in Umlauf gebracht wurde. Beispielsweise von Don Williams (“Dynamic Rain“) oder Roger23 (“Room With A View Pt. I“).
Nun denn. “Underworld” besticht als schlichter, sparsam instrumentierter Track. Langsam in der Raumtiefe sich verlierende, in Echoschleifen sich wiederfindende Chords zeichnen das Soundgerüst aus. Metallische, harte Claps, lockern es auf. Minimalistisch gehaltenes Drumprogramming und ein auf Dauer verstörendes Hintergrundrauschen tragen zur hypnotischen Dichte von “Underworld” bei.
Ryo Murakami – Underworld by baudmusic
Aus diesem dicht geflochtenen Klangnetz, aus der beinahe schon dröseligen Atmosphäre, löst sich “Night Dew“. Besonders gefallen die immer komplexer werdende Beatstruktur und die Arbeit an Hi-Hat und Becken sowie die crispen Snare-/Clap-Effekte, welche Ryo Murakami einflicht. Aus der Unterwelt mitgebracht, zum vollen Einsatz kommt obendrein eine Bassline, die dem Track Herzenskraft und Tiefenpräsenz verleiht.
Ryo Murakami – Night Dew by baudmusic
“Closer” und “Fog” wirken im Vergleich dazu wieder verschlossener, vertrackter. Die unheilvoll dräuende Schwere, der in dunklen Klangfarben gehaltene Bass und die tiefhängenden Synthesizer-Wolken, werde ich allerdings so schnell nicht wieder aus meinem musikalischen Gedächtnis bekommen. Gross!
Ryo Murakami – Fog by baudmusic
English (short) version: four tracks on a new 12″ by Ryo Murakami on which the japanese producer invites us do discover darkish soundscapes with dub-techy chords, psy drops and splashes of distorted and wobbly basslines. Great!
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